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Edith & Horst Heintze


Diese Worte stammen nicht vom Dichter des Morgante, sondern von einem späteren Gelegenheitspoeten, der aber – zweifelsfrei ein Verehrer dieses Werkes – von der Fülle des Stoffes wie von der Wirkung des Inhalts auf seine Zeitgenossen überzeugt sein musste. Als 1754 Jacomo Antonio Lucchesi seiner Morgante-Ausgabe ein sogenanntes Argumentum als Zusammenfassung beifügte, ahnte er sicher nicht, dass sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte weiter ein heftiger Streit um den Inhalt von Pulcis Mammut-Opus fortsetzen würde.

Begonnen hatte das Ganze jedoch ziemlich harmonisch. Luigi Pulci (*1432 †1484) war nicht nur ein begnadeter Dichter, sondern auch intimer Freund Lorenzo de’ Medicis und somit ein gern gesehener Gast bei Hofe. Schon in jungen Jahren betraute man ihn auch mit politischen Missionen, die ihn zunächst nach Rom und Neapel führten. Später bediente der Hauptmann Roberto Sanseverino sich der diplomatischen Geschicklichkeit Pulcis und nahm ihn mit auf Reisen. Eines Tages bekam er von Lorenzo de’ Medicis Mutter, Lucrezia Tornabuoni, den Auftrag zu einem Ritter-Epos. Damit begann die „Geschichte des Morgante“, die von 1461 bis 1483 währte und sowohl dem Verständnis des Werkes als auch des Dichters dienlich ist.

Zu fragen wäre, weshalb gerade ein Ritter-Epos? Wissen muss der Leser, dass zu dieser Zeit die Stadtkultur von Florenz sich gern im Scheine der französischen Literatur, Geschichte und Kunst zu sonnen begann. So war der Stoff Kaiser Karls des Großen (Charlemagne) und seiner Paladine höchst willkommen, allzumal sich der Ritterroman per se schon über eine ganze Ära hinweg großer Beliebtheit beim Lesepublikum erfreuen durfte. Und damit wählte Pulci ein tragikomisches Gedicht aus dem Kreis der Karlssagen, nämlich den Orlando (Roland) für den 1. Teil und die Rotta die Roncevalle (Niederlage von Ronceval) für den 2. Teil des Morgante.

Aus der Sicht von uns Heutigen, die wir kaum noch die Angewohnheit haben, uns mit Ritterromanen zu umgeben, stellt sich schon die Frage, ob es denn etwas bringe, sich durch eine Lektüre mit Hunderten von Seiten zu quälen. In seiner Einführung zum Morgante gibt Horst Heintze eine mögliche Antwort.
In der Kunst ist die Phantasie fast alles. Wer in der Vergangenheit nach originellen Werken sucht, in denen die Kultur ihrer Epoche einen phantasievollen Ausdruck findet, dem könnte dieses ausschweifende Riesen- und Ritterepos aus dem 15. Jahrhundert wohl gefallen. Dem Leser möchte es auf den ersten Blick wie eine Art von Moritatenbühne vorkommen, auf der die abenteuerlichsten Gestalten mit Worten wie mit Schwert, Lanze oder Keule streiten.

Was Pulci bewußt schuf, war ganz sicher ein literarischer Erfolg, so recht nach dem Geschmack weiter Kreise des kunstverständigen florentinischen gebildeten Stadtbürgertums; was er nicht voraussehen konnte, war die Vorbildwirkung seines Epos’, das auf Frankreich zurückwirken konnte. Denn beispielsweise François Rabelais (1494-1533) mit seinen berühmten Riesen Gargantua und Pantagruel, Bonaventure Des Périers (1510-1544) in den Nouvelles récréations sowie dem Cymbalum mundi, Noël du Fail (1520-1591) mit seinen deftigen altfranzösischen Schwänken in den Baliverneries und den Erzählungen um Eutrapel u.a. nutzten höchstwahrscheinlich Witz, Schlagfertigkeit und die Vorstellungskraft des Italieners. Doch scheint es nicht abwegig anzunehmen, dass sein Ruf auch bis nach Spanien drang und er dort bei der Ausstattung des pícaro womöglich Pate gestanden haben könnte. Nicht nur ausländische Literaten labten sich an den dichterischen Kapriolen Pulcis und seinen komisch-parodistischen Tagträumen. Bei all dem Stoffüberangebot von Rittern und Minne, Riesen und Zauberern, verzwickten Liebesbeziehungen und intriganten Staatsgeschäften, von martialischen Jungfrauen und einfältigen Schelmen... nimmt es nicht wunder, wenn selbst die Commedia dell’ Arte bei Pulci direkt anknüpfen konnte. Wenn die Handlung nur noch Vorwand für die theatralischen Effekte war, aber dennoch etwas Entlarvendes an sich hatte, wurde die erste Lektüre dieses Werkes dem Publikum zur Aufgabe: Mit dem maliziösen Sinn des Florentiners mochten sich seine Zeitgenossen noch hinreichend auf bekanntem Terrain befunden haben, doch alle späteren konnten sich mit den spontanen und vieldeutigen Einlassungen, Schnurren und Possen wohl erst auf den zweiten Blick in so manchen Hintersinn hineindenken.

Das Fundament des Morgante ist die historisch belegte Episode der Schlacht von Ronceval. Pulci kennt die Geschichte von Karls des Großen Feldzug nach Spanien, wo er die aufsässigen Sarazenen züchtigte, jedoch auf seinem Rückmarsch durch die engen Pyrenäentäler einen herben Verlust hinnehmen mußte. In der Schlacht von Ronceval geriet seine Nachhut in einen Hinterhalt und wurde durch wilde Basken (die sich in der dichterischen Fiktion zu heidnischen Sarazenen verwandelten) aufgerieben. Dieser Stoff sollte der Literatur zur Grundlage für mancherlei phantasievolle Ergebnisse werden. Bei Pulci fallen also nicht nur die Recken seines Trosses, sondern auch der Paladin Roland, sein Neffe. Heiden überlisteten Christen. Diese Vorstellung sollte das Abendland noch lange beschäftigen, und sie hat bis heute noch nichts an Aktualität eingebüßt! Hatte damals Papst Urban II. – um eine Ausbreitung des Islam nach Westen einzudämmen – zum ersten Kreuzzug (1095) aufgerufen und damit gleichzeitig den Grundstein für eine Konsolidierung des Rittertums im Kaiserreich gelegt, verfasste zu dieser Zeit ein gelehrter Kleriker namens Turoldus das rasch über die Grenzen hinaus berühmt gewordene Rolandslied. Darin wird erklärt, dass die Niederlage und der Tod des streitbaren Rolands Folge des heimtückischen Verrats Ganelons, des Erzrivalen, war. Roland stirbt verklärt als ein Streiter für die gerechte Sache des christlichen Glaubens und in Pflichterfüllung gegenüber seinem Lehnsherrn, dem Beschützer der gesamten Christenheit. Alles das findet der Leser des Morgante wieder; Pulci hat in den Handschriften der reichen Bibliotheken seiner Stadt Florenz das Material gefunden, um dann den Bogen schlagen zu können, insofern er die sonnigen cisalpinen Gefilde durch Kaiser Karl von den barbarischen Goten und Vandalen befreien ließ. Und an dieser Stelle ermahnte der Dichter seine Landsleute, diesen Umstand mit Bedacht und Dankbarkeit gegenüber der französischen Gentilezza zu würdigen und lag damit ganz im Trend der Zeit.

Sein Verhältnis zum großmächtigen Freund Lorenzo veränderte sich in dem Maße, wie dieser mehr und mehr in die politischen Geschicke eingebunden wurde. Abgesehen von den bedrückenden pekuniären Sorgen in der eigenen Familie, plagte Pulci zunehmend eine sehr einflussreiche Konkurrenz bei Hofe, die ihm immer mehr Verdruß bereitete. Neue Hausfreunde im Palazzo Medici waren vor allen der Literat Matteo Franco (1447-1494) sowie der Philosoph Marsilio Ficino (1433-1499), welche de facto die von Pulci so schmerzhaft und eifersüchtig verteidigte Zeit der brigate laurenziana beendeten. Er wollte und konnte nicht wahrhaben, dass der Jugendfreund zum Staatsmann und der ungezügelte Freigeist nur noch in der Erinnerung weiterlebte; er konnte nicht begreifen, dass Florenz als der Wiege des Dreigestirns Dante (1265-1321) - Petrarca (1304-1374) - Boccaccio (1313-1375), das der Stadt zu einem zugleich ungewöhnlichen wie einmaligen Ruf verholfen hatte, nun von Lorenzo mit besonderem Augenmerk bedacht wurde; dabei lag der Akzent auf der Bedeutung, welche Orientierung sich die zukünftige Poesie wohl zueigen machen würde.

Aus politischer Sicht gewann diese Frage zu jener Zeit an eminenter Bedeutung, weil der Schlüssel dazu die Sprache war. Während die volkssprachliche Tradition des volgare von einer oligarchisch-republikanisch gefärbten Richtung vertreten wurde, favorisierten die Medici mit ihrer monarchischen Gesinnung die humanistischen Studien und das klassische Latein. Daraus resultierte zwangsläufig ein Konflikt, in den neben einer ganzen Reihe von Literaten, zu denen eben Luigi Pulci gezählt wurde, auch Lorenzo de’ Medici in seiner Jugend geriet. In seinem späteren Leben machtpolitisch engagiert, sah er wohl in der Abkehr von seinen Jugendidealen die Möglichkeit, eher zu einer für ganz Italien vermittelbaren Sprache zu gelangen. Es war genau das, was man von ihm erwartet hatte; denn bereits sein Großvater Cosimo hatte eine Kulturpolitik vorgedacht, die sich an einem platonisch-humanistischen Ideal zu orientieren suchte und damit eine Abkehr von der experimentellen Manier des volgare bedeutete.

So wurden aus Freunden Gegner – bis hin zum Exil für einige Unbelehrbare, die sich nicht dem kulturellen Verdikt des Florentiner Hofes beugen mochten. Soweit ging es bei Pulci jedoch nicht, wenn auch seine Besuche im Palazzo gegen Mitte des Jahrhunderts spärlicher wurden und dann ganz ausblieben, litt er doch unter dem Eindruck herrschaftlicher Willkür. Wie die Geschichte zeigt, usurpierten Herrschende immer wieder die Sprache – mal aus ökonomischen, mal aus Gründen der Staatsräson –, und Luigi Pulci war einer der Leidtragenden, weniger aus intellektueller als aus ideologischer Sicht. Pulci nannte seinen Morgante über die ersten 23 Gesänge eine Komödie; darin verdrängt die Neugier des Dichters auf das Einzelne, minutiös beschriebene Bilder, zuweilen den Blick auf das vorherbestimmte Ziel. Und erst nach vielen Abenteuern, so gesteht er im 27. Gesang dem Leser, verwandle sich das Epos in eine Tragödie. Ob dieser Gefühlsumschwung ursächlich zu tun hatte mit der schmerzlich empfundenen Nichtachtung seiner späteren Arbeiten durch den Hof, an dem er einst als gefeierter Dichter glänzen durfte, bleibt im Spekulativen. Den freizügigen Umgang mit dem Wort hat man Pulci nicht nur zu seinen Lebzeiten von seiten der Glaubenseiferer (Girolamo Savonarola 1452-1498) als Blasphemie angekreidet, sondern auch die spätere Literaturkritik meinte in seiner Diktion ein kanonisches Sakrileg entdecken zu müssen. Wenn nicht als pure Häresie, so doch wenigstens als ein tadelnswertes Verhalten gegenüber dem christlichen Glauben wollten ihn viele verstanden haben. Pulci war aber weder gottlos, noch zeigte er sich gegenüber den kirchlichen Autoritäten aufmüpfig. Er selbst nennt am Schluss des Morgante seinen Glauben weiß, wohl in Anlehnung an Dante, und so kann man ihm vielleicht manche despektierliche Äußerung vorwerfen, doch den Willen zur Suche nach einer guten und toleranten Synthese von Gott und der Welt ist ihm nicht abzusprechen. Auch die Zeitgenossen Pulcis lebten in einem spannungsreichen Verhältnis zwischen Glauben und Wissen, wie wir beispielsweise aus dem Universalienstreit wissen. Wie immer auch: Augenscheinlich lassen sich noch immer zwischen dem Bestreben der Moderne nach Loslösung von den bindenden Konventionen und der Phantasiewelt der ritterlichen Abenteurer unter dem Kreuz bestimmte Analogien beobachten, die zum produktiven Verständnis des Werkes beitragen können. Die individuelle Lektüre des Morgante kann das Weitere dazu erhellen.




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